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Das Jahr der Erschöpfung

Herr R. ist wieder zu Besuch. Er kommt seit das Jahr sich neigt, täglich. Da er unerkannt durch die Tür schlüpft, bemerke ich seine Anwesenheit erst an meinem Mann, der hinter sich selbst verschwindet. Er hat Herrn R. mit nach Hause gebracht und schämt sich dafür. Aber da ich die Situation noch nicht verstehe, erkenne ich seine Scham nicht und begrüße ihn mit der üblichen, glühenden Lava an Vorwürfen. Meine Kräfte schwinden, seit Herr R. sich in unser Leben eingeschaltet hat, und ich mache meinen Mann dafür verantwortlich. Ich trage zuviel auf meinen Schultern und vor der Verzweiflung kommen die Anklage und die Wut.

Herr R. ist ein netter Familienmensch, Vater zweier Kinder, ein paar wenige Jahre jünger als wir. Gewissenhaft und loyal. Er wählt freundliche Worte im Umgang mit meinem Mann. Herr R. ist sein Vorgesetzter in einer Firma, in der es viele von seiner Sorte gibt, Männer und Frauen.

Dass Herr R. längst zwischen uns wohnt, bemerke ich erst, als das Jahr sich neigt. Monate lang sitzt er schon zwischen uns auf dem engen Sofa, liegt zwischen uns in unserem Bett, mischt sich in all unsere Gespräche. Diese Gespräche bestehen aus einer Anhäufung von Vorwürfen, die immer lauter werden, immer kränkender und unwiderruflicher. Ich bin nicht genug für meinen Mann da, sagt er. Er ist nicht genug für mich da, denke ich und sehe auf unser Kind und fühle den Schluckauf des nächsten in meinem Bauch; und sehe einen Alltag in der Endlosschleife, der mich langsam erdrückt, weil er nur noch Raum lässt für das, was erledigt werden muss. Ich bin eine Muttermaschine geworden.

 

Natürlich ist es zu einfach, Herrn R. für alles verantwortlich zu machen. Er ist nur ein kleines Rädchen in der tickenden Uhr. Aber er gibt sein Gesicht dafür her, darin erkannt zu werden. Kurz vor Weihnachten in der Zeit der Bestandsaufnahme bietet er sich endlich an als Erklärung, kurz bevor alles verloren ist: eine Ehe, unsere Gesichter, die Sicherheit der Kinder.

Aber um ihm gerecht zu werden, muss ich zugeben, dass es lange vor ihm anfing. Ungefähr als das letzte Jahr zu Ende ging und mir mein Mann und damit der Vater meines Kindes entglitt. Er entglitt in den Kampf mit der Chimäre, die aus seiner Arbeit entwuchs. Aus der überflüssigen Stelle, auf der er saß und in der es nichts zu tun gab, über die er aber beständige Rechenschaft abzulegen hatte. In einer Firma, die sich mit einem großen Namen und ungezählten beruflichen Möglichkeiten schmückte.

Dann kam die Versetzung in Herrn R.s „Team“.  Wir atmeten auf für ein paar Tage. Bis der Prozess begann, der sich uns erst viel zu spät in seiner Systematik zu erkennen gab. Die Firma, eine corporation, wie im gleichnamige Film beschrieben, arbeitet mit einem System der Selbsterhaltung. Dieses System greift, wo sich jemand allein durch seine bisherige unterdurchschnittliche Erfolgsquote dafür anbietet, kostengünstig verabschiedet zu werden. Es verfolgt das Ziel, ihn oder auch sie davon zu überzeugen, freiwillig die überflüssig gewordenen Stelle aufzugeben und zu gehen, ohne etwas dafür zu verlangen als den eigenen Frieden.

 

Wir bekommen die ersten unsichtbaren Besuche von Herrn R., und ich finde meinen Mann hinter ihm nicht mehr. Im Nachhinein denke ich unwillkürlich an die grauen Männer und wie es einen friert, wenn sie kommen. Nur geht es Herrn R. nicht um Zeit. Er benutzt sie für seine Verhandlungen, aber die Ware, die von ihm gehandelt wird, ist der Mammon. Und das goldene Kalb besitzt nicht einmal die Scham sich zu verstecken – im Gegensatz zu meinem Mann, was ich ihm zugute halte. Dem Kalb ist es egal, wer ihm dient, welche Gesichter der Mob trägt, der es umtanzt. Damit der Tanz weitergehen kann, muss manchmal einer abgestoßen werden. Möglichst unbemerkt. Möglichst so, dass keiner das Ritual dahinter entdeckt.

Herr B., der Vorgesetzte von Herrn R., ebenfalls ein goldenes Rädchen, und Herr R. laden meinen Mann nun regelmäßig zu einem Gespräch unter sechs Augen. Ihm werden Verbesserungsvorschläge für seine Vorgehensweisen unterbreitet. Ihm wird das tote Land, das er zu beackern hat, als wertvoll verkauft. Er muss tägliche Zahlen abliefern und arbeitet bis in die Nacht daran, diese zu erbringen. Sein Weg zur Arbeit beträgt eine Stunde. Zurück eine weitere. Seine Gleitzeit wird außer Kraft gesetzt und nun sieht er sein Kind morgens nicht mehr, das noch schläft, wenn er geht. Manchmal schläft es schon wieder, wenn er kommt.

 

Die Zeit der Schwangerschaftsübelkeit verbringen das Kind und ich mitten im Sommer auf dem Wohnzimmerteppich, wo ich wenigstens liegend mit ihm spielen kann.

Dann kommt die Zeit, in der ich einen weiteren Anlauf nehme. Die Übelkeit ist vorbei, ebenso die erste Phase der Schlaflosigkeit. Das Kind im Bauch setzt Energien frei bis in den Herbst hinein. Ich kämpfe gegen etwas in meinem Mann an, der immer öfter apathisch neben unseren Spielen sitzt. Oder vor dem Bildschirm. Aber ich ahne nicht, dass dieses Etwas längst in mir selbst ist. Herr R. lässt es uns da bei jedem seiner Besuche, die sich nun häufen. Es ist die Erschöpfung nach der unermüdlichen Bemühung gegen die Umstände.

Mein Mann wird immer wieder krank. Ich ersticke in Wäsche, Windeln, Einkäufen, Essensversorgung und unter seinen Monologen über das, womit er sich geistig am Leben hält. Ich leiste mir keine geistigen Ausbrüche aus dem Alltag und vergönne sie ihm.

Der Anlauf, den ich genommen habe, versiegt, weil ich die Spur verliere. Mein ermüdeter Lauf findet nunmehr außer Konkurrenz statt. Wir bauen uns Bunker. Jeder einen für sich, denn wir leben in einer Zeit der atomaren Bedrohung. Jetzt lässt sich kein Hehl mehr daraus machen.

 

Ich bewache den Schlaf unseres Kindes wie in seinen ersten Wochen, weil ich nachts wieder schlaflos liege. Seine Hand greift manchmal nach mir und klammert sich an den Halt, den ich ihm nicht ersetzen kann. Es braucht Eltern, nicht eine Mutter, die in ihren Vorwürfen dem Vater gegenüber langsam erstarrt, weil die Kraft schwindet, wenn die Beschimpfungen grob und die Unterstützung klein und unberechenbar wird. Ich übe den Szenenwechsel; das Kind beschützen um jeden Preis, das unter den Streitereien, die immer heftiger werden, verstummt, abfedern, was sich nicht abfedern lässt. Die Scham angesichts dieses Selbstbetrugs. Mein Herz zerbricht. Eine staubige Erosion.

Ich beruhige das Kind in seinem Schlaf. Es lässt sich trösten, aber beruhigt ist es nicht. Wenn mein Mann apathisch ist, schickt es ihn aus dem Zimmer, möchte es nichts mit ihm zu tun haben. Mir dämmert jetzt, dass es nicht ihn, sondern den ungebetenen Besuch von Herrn R. zu vertreiben versucht.

Ich habe ein Jahr lang an meinem Mann herumgerüttelt. Ich hatte  Angst, er würde uns verpassen, seine Kinder und mich. Dann habe ich mich der Wut anvertraut und die Wortgefechte verwandelten sich langsam in einen Krieg, erst elementar, dann nuklear. Ich verliebte mich aus Sehnsucht und Müdigkeit in einen anderen Mann, der alles war, was ich vermisste: liebevoll, aufmerksam, einfühlsam im Umgang mit Kindern und anderen Menschen. Ich packte nach acht Jahren Ehe zum ersten Mal meine innerlichen Koffer, nachdem mein Mann mir schon seit einem Jahr damit drohte. Und obwohl niemand wusste von meiner schmerzhaften Sehnsucht unter dem Bauch, den ich immer größer vor mir her schob.

Das Kind ist wieder verstummt zwischen uns, noch zu klein um sich für eine Seite entscheiden zu können, in meinem Arm, der sich anfühlte wie ein Betrug um Wärme und Nähe.

 

Dann erbricht das Kind. Wir sitzen im Taxi und ich fange mit bloßen Händen auf, was es von sich gibt, um die Sitze zu schonen. In der Nacht geht es weiter. Ich wache auf mit dem Blick auf die sprudelnde kleine Fontäne neben mir. Dreimal noch müssen wir die Laken und die Kleidungen wechseln.

Stundenlang putzen wir, tagelang sitzen wir zwischen den Bergen an Wäsche, während das Kind von uns beiden bewacht wird mit den Augen der Angst und wieder der Scham. Aber unsere Bunker sind zu stabil geraten. Keiner öffnet dem anderen die Tür. Das Kind sucht sich eine Orientierung, wo es keine geben kann. Als ich weine, sagt es, dass ich nicht traurig sein muss, weil es auf mich aufpasst. Wie immer finde ich schlagartig in die Fassung zurück. Aber ich weiß: der Schaden ist schon passiert, wenn das Kind die Eltern beschützen muss.

 

In einer Nacht endlich bricht auch mein Vulkan aus. Die Lava kommt mir aus allen Poren geschossen. Kein Halten mehr. So schlimm wie seit zwanzig Jahren nicht. Mein Mann muss Sonderurlaub beantragen, und ich esse tagelang nichts mehr. Dann kommen die Tränen, und die graue Asche nach der Verwüstung. Neben der Frage, wofür man solange standgehalten und sich in Tapferkeit geübt hat, wo man doch weiß, dass jeder Krieg letztendlich nur Verlierer kennt. Ich esse nun Zwieback, trinke Wasser und blicke durch ein vergittertes Fenster in meine Tage hinein, wenn sie beginnen.

 

Erst als schon alles von mir abgefallen ist, auch die letzte Hoffnung, derer ich doch voll zu sein habe in meinen anderen Umständen, hört einer von uns plötzlich die goldene Uhr ticken. Wir sehen uns das Uhrwerk genauer an und finden die vielen kleinen Rädchen darin, ineinander verzahnt. Von einem Tag auf den anderen erkennen wir Herrn R., wenn er einzutreten begehrt, und verweigern ihm den Einlass in unsere Wohnung. Er versucht es durch die Telefonleitung, den Briefschlitz und natürlich über das Internet. Aber unser Kind, das wir nicht beschützen konnten, hat uns jetzt ausgestattet mit einem mächtigen Schild gegen jeden Trojaner. Jetzt schafft es nur das leere Pferd noch zu uns, die Hülle. Der Reiter bleibt endlich vor der Tür.

 

Unser Kind zittert im Schlaf und träumt Wortfetzen: „Papa … Arbeit“. Ich flüstere, um es nicht zu wecken: „Nein, der Papa ist hier und er bleibt jetzt hier und muss ganz lange nicht arbeiten.“ Dank der Krankschreibung bis zur Niederkunft, die keine mehr sein wird. Wir sind jetzt bereit, dem Wunder einer Schöpfung beizuwohnen, wie es jedem Kind gebührt.

Herr R. kommt mir plötzlich vor wie einer von uns. Einer, an dem man sich hat bedienen können. Die, die sich bedienen, lassen sich nicht genau fassen. Vielleicht weil sie ein Teil von uns allen sind, der sich anderen Götzen verpflichtet hat als der Liebe zu uns selbst.

Wir verabschieden die Götzen zur Weihnachtszeit, obwohl wir nicht christlich sind. Aber dazu ist diese Zeit da: für den Neubeginn und die Hoffnung unter dem Herzen. Und einen Frieden, der nicht zweifelhaft ist. Den man nicht in Kauf nimmt, weil man dazu gezwungen wird. Sondern einen Frieden wie er sich einstellt, wenn über die verwüstete Landschaft und die Asche ganz leise ein erster unerwarteter, weicher Schnee fällt.